Demenz

Nach 4 Jahren als pflegender Angehöriger muss ich leider feststellen, dass unsere Gesellschaft auf die Krankheit Demenz nicht vorbereitet ist. Es wird viel geredet aber praktisch nichts getan. Und das liegt vor allem daran, dass selbst viele Fachpersonen keine Vorstellung von den Erscheinungsformen dieser Krankheit haben. Das erlebe ich ständig im Umgang mit unserem Gesundheitssystem, das leider wenig brauchbare Unterstützung bietet. Diese schwierige Zeit hat mir aber auch gezeigt dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt Demenzkranken zu helfen und Erfolge zu erzielen.

Zuerst einmal sollten die Auswirkungen verstanden werden. Das ist schwer, weil alle denken zu wissen was sie sich unter „Vergessen“ vorzustellen haben, das passiert ja schließlich allen mal. Bei Demenz ist das aber anders. Das „normale“ Vergessen ist eingebettet in einen Erinnerungsstrang und das Vorherige wird sehr wohl erinnert und es kann daran angeknüpft werden und irgendwann kommt die Erinnerung wieder. Bei Demenz ist das anders – es ist plötzlich alles weg und es gibt kein vorher. Ein selbstständiges Leben ist so nicht mehr möglich. Das fällt nur dann nicht auf wenn ständig ein Umfeld vorhanden ist das die Auswirkungen auffängt.

Das Umfeld bewirkt eine ständige Neuprogrammierung der Erinnerung. Das ist besonders belastend für pflegende Angehörige weil ja ständig alles wiederholt und immer und immer wieder erklärt werden muss. Da ja kein erwartbares Verhalten mehr vorhanden ist, muss eine ständige Überwachung erfolgen und das mündet in eine rund-um-die-Uhr Pflegearbeit. Langjährig erlernte Verhaltensmuster funktionieren zwar noch, aber sie werden nicht mehr selbstständig begonnen. Sie müssen vom Umfeld angestoßen und überwacht werden. Das führt dazu, dass Demente in gewohnter Umgebung prinzipiell vieles noch können und daher gibt es auch Probleme mit der Einstufung des Pflegegrads. Sie können eine Handlung ausführen, aber nicht zur passenden Zeit und Notwendigkeit. Daher muss das Umfeld ständig in Bereitschaft sein wenn das alles gut gehen soll. Dieses Umfeld gibt es aber immer seltener und vor allem gibt es nicht die passende Unterstützung. Es hilft kaum wenn ein Pflegedienst mal kurz für einige Minuten am Tag kommt. Es muss ständig jemand da sein, und das sollten geduldige Personen sein. Bei Demenzkranken klappt keine Erziehung.

Aber Erfolge sind möglich. Die größten Verbesserungen gab es bei uns nach der Absetzung von Medikamenten. Jede Demenz ist ein Einzelfall und ich kann hier nur von unserem Einzelfall berichten. Aber ich möchte alle Betroffenen ermuntern den Mut aufzubringen Medikamente in Frage zu stellen. Es gibt spezielle Wirkstoffe, die besonders für Demenzkranke entwickelt wurden und eine Verlangsamung und sogar Verbesserung der Symptome versprechen. Viele wurden in unserem Fall aufgrund der Nebenwirkungen ärztlich empfohlen wieder abgesetzt. Im Fall des speziellen Medikaments Memantin habe ich jedoch eigenverantwortlich die Absetzung durchgeführt (mit Hausarztrücksprache). Die Grundlage war, dass ich am Ende meiner Kräfte war und die Betreuung meiner demenzkranken Mutter aufgeben wollte, da sie immer schwächer und apathischer wurde. Aufgrund der Erfahrungen mit vorheriger abgesetzter Medikation hatte ich dann etwas verzweifelt eine ausgiebige Internetrecherche durchgeführt und bin auf einige Erfahrungsberichte gestoßen. Und ich habe auch erfahren, dass es keine Langzeitgutachten zu diesem Medikament gibt. Es wird einfach verschrieben und dann halt dauerhaft weiter gegeben. Die Empfehlung den Einnahmezeitpunkt zu verändern hat bei uns sofort positive Auswirkungen gezeigt (im Packzettel gibt es da keine Vorschriften). Mit diesem Erfolg konnte ich den Hausarzt überzeugen meinem Absetzungswunsch zuzustimmen. Diese Entscheidung hat mich natürlich extrem unter Druck gesetzt, denn meine Familie war sehr besorgt weil es sich ja schließlich um ein empfohlenes Medikament handelt und gemäß Hersteller eine drastische Verschlechterung angedroht wird falls dieses abgesetzt wird. Da ich aber sowieso am Ende meiner Kräfte war habe ich das alles riskiert.

Und es war ein durchschlagender Erfolg.
Die morgendliche Apathie verschwand sofort und es gab sogar einige Erinnerungserfolge. Diese Medikamentenabsetzung motiviert mich bis heute die wirklich schwere Aufgabe weiter durchzustehen (ich vermute nur pflegende Angehörige Demenzkranker können verstehen was ich damit meine). Was mich aber tief besorgt ist, dass diese Medikamente dauerhaft verschrieben werden wenn keine Angehörigen das in Frage stellen. Diese Erschöpfung durch Dauereinnahme wird nicht auffallen wenn keine ständige Begleitung vorhanden ist. Weil es „ist halt“ die fortschreitende Demenz, die ja nicht aufzuhalten ist. Wer überprüft denn ob diese Krankheit vielleicht von einem dauerhaft verordneten Medikament eskaliert wird? Im Pflegeheim wären erschöpfte Menschen ja auch leichter zu handhaben?
Seit dieser Erfahrung ist mein Vertrauen in unser Gesundheitssystem sehr angeschlagen. Es gibt ein großes Potential dementen Menschen zu helfen, aber ich sehe hier keinen Anreiz für die Pharmaindustrie wenn es so einfach ist extrem teure Medikamente ohne Qualitätskontrolle und ohne Langzeitstudien dauerhaft zu verabreichen. Es könnte sein, dass es eine pharmazeutische Verbesserungsmöglichkeit gibt. Und das wäre prima und wünschenswert. Aber ein Herumprobieren auf dem Rücken pflegender Angehöriger ist absolut nicht akzeptabel. Aus mangelhaftem finanziellen Interesse wird so eine große Chance verspielt Demenzkranken und ihren Angehörigen wirklich zu helfen.

Was hilft jetzt tatsächlich? Gute Ernährung, viel Bewegung, viel Ansprache und natürlich die gewohnte Umgebung. In dem Jahr ohne Demenzmedikation hat sich der Zustand (natürlich ein auf-und-ab) nicht weiter verschlechtert (wie das zuvor der Fall war). Und es gibt sogar einige kleine Erfolge mit Teil-Erinnerungen. Das hilft natürlich nichts für die Alltagskompetenz, aber es hilft einen lebensbejahenden Menschen zu sehen und nicht mehr ein erschöpftes Häufchen Elend.

Ein Anschauungsbeispiel

Der Film „The Father“ zeigt das Fortschreiten der Demenz aus dem Blickwinkel eines Betroffenen. Es ist sehr verwirrend und kaum zu ertragen den Sequenzen des Films zu folgen und das gezeigte Ende ist wohl unvermeidlich. Mit einem aufmerksamen Umfeld lässt sich das aber sehr herauszögern und erträglicher gestalten. Eine Demenz ist sehr individuell und ihr Verlauf hängt sehr vom Umfeld ab. Deswegen ist es wichtig dass sehr viele Menschen sich damit beschäftigen, das Problem verstehen und Druck auf unser Gesundheitssystem ausüben.

Filmvorstellung: https://de.wikipedia.org/wiki/The_Father_(2020)


Demenz ist nichts märchenhaftes, aber auch Märchen können helfen sie zu verstehen. Vielleicht kann die folgende Beschreibung einen Eindruck der Problematik vermitteln.

Tischlein deck dich

oder: lehrreiche Botschaften aus Märchen

Original-Märchen-Text: https://maerchenfibel.com/maerchen/tischlein-deck-dich

Alle kennen das Tischlein, den Goldesel und den Knüppel aus dem Sack. Aber in diesem Märchen der Gebrüder Grimm gibt es noch eine heimliche Hauptdarstellerin. Es ist die Ziege. Über die hatte ich mich schon als Kind gewundert. Ihr Verhalten macht erst mal überhaupt keinen Sinn, außer vielleicht dass der Beginn des Märchens sonst nicht funktionieren würde.

„Ich bin so satt – ich mag kein Blatt“ … und kurz später: „wie sollt ich satt sein, ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Gräselein“… und das Ganze jeden Tag neu…

Jetzt verstehe ich die Ziege – sie ist dement! Bei demenzkranken Menschen ist das genauso: schon nach einer Minute können sie einen Vorgang komplett vergessen haben und werden sich nicht daran erinnern und behaupten fest dass das gar nicht passiert ist. Für Uneingeweihte klingt das wie eine Lüge und auch für das informierte Umfeld kann das schnell zum Genervtsein führen. Die Erinnerung an die Ziege kann da als Anschauungs-Beispiel helfen.

Das Märchen irrt natürlich wenn es die Ziege als bösartig beschreibt. Denn wäre sie böse, dann würde sie sich ja dann zuletzt beim Vater verstellen und der würde gar nicht merken, dass er falsch gehandelt hat.

Kaum jemand kennt auch das eigentliche Ende des Märchens, das ja nach dem Happy-End von Vater und Söhnen noch weiter geht. Die Ziege wird bestraft, verjagt und verkriecht sich. Auch von den anderen Tieren wird sie schließlich nicht mehr erkannt und dämonisiert. Zuletzt wird sie auch von den Tieren noch einmal endgültig verjagt und verschwindet spurlos für immer.

Wenn sich Jemand mit dem Thema Demenz beschäftigen möchte, dann findet sich eine treffende Beschreibung der Auswirkungen exakt in diesem Märchen. Und auf einmal bekommt diese traurige Geschichte der Ziege einen tieferen Sinn. Nach dem Realitätsverlust kommt das Missverständnis, dann der Rückzug und schließlich die Ausgrenzung. Das ist der Weg der Demenz. Aus dem Märchen lässt sich also diese tragische Systematik verstehen und vielleicht hilft die Einsicht ja eine Lösung zu finden. Das tragische Schicksal der Ziege kann und sollte dementen Menschen erspart werden und dazu braucht es das Verständnis und die Rücksicht der Umgebung.

2024 Lothar Tallner


Über Fragen oder Rückmeldungen freue ich mich unter lotall@gmx.de

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